Vertrauen ist Arbeit
Hinter dem müden Gesicht eines Obdachlosen stecken viele Jahre voller Enttäuschung, Gewalt und fehlender Hoffnung. Erlebnisse, die wir uns gar nicht erst vorstellen und noch weniger nachempfinden können. Erlebnisse, die so grausam sind, dass sie unglaublich erscheinen. Obdachlose berichten uns von Nächten, in denen sie getreten, beschimpft, mit fremden Fäkalien übersät und zum Teil sogar angezündet wurden. Wir fragen uns, weshalb ein Mensch einem anderen Menschen so etwas antut. Natürlich entsteht dann sofort der Wunsch nach Vergeltung. Diese grausamen Täter sollten das gleiche Erleben und vielleicht noch eine Spur härter. Aber wären wir dann besser? Wollen wir uns durch diese bösen Gedanken antreiben lassen? Ist es die Nächstenliebe, die wir lieben und verbreiten wollen? Natürlich gehören genannte Täter bestraft. Dafür gibt es unsere Gesetze, die Menschen beschützen und bestrafen sollen. Aber das sind nicht wir in unserer Selbstjustiz. Richten wir unseren Fokus stattdessen auf die Geschädigten. Lasst uns unser Herz für die Bedürftigen öffnen, damit sie durch unsere Anteilnahme die Erlebnisse verarbeiten können.
Wir erleben immer wieder die Sprunghaftigkeit von Obdachlosen. Es sind Menschen ohne festen Wohnsitz. In ihrem Ausweis findet sich häufig nur eine Postanschrift, aber keine Wohnanschrift. Was hält einen Mensch an einem Ort, wenn er nicht einmal eine Wohnanschrift besitzt? Richtig, sehr wenig. Es sind die Menschen, die wir lieben, die uns an einen Ort binden. Freundschaften sind in der Obdachlosigkeit sehr rar, da jeder mit dem eigenen Überleben und weniger mit der Teilnahme am Leben eines Freundes beschäftigt ist.
Leider ergibt sich des Öfteren folgendes Szenario: Wir begegnen einer obdachlosen Person. Lernen sie kennen und erfahren, wie wir sie in ihrer Situation unterstützen dürfen. Von heute auf morgen ist sie nicht mehr an ihrem üblichen Platz. Wir sehen diesen Obdachlosen nie wieder. Diese Person wiederzufinden ist quasi unmöglich. Uns bleibt nur die Hoffnung, dass dieser Obdachlose von Gott behütet und beschützt wird.
In der Nähe des Hauptbahnhofes durften wir eine Obdachlose kennenlernen, der wir seither immer wieder begegnen. Anfangs war sie ausgesprochen distanziert und reserviert. Wir haben selten eine Person erlebt, die uns weniger Vertrauen gegenüber brachte. Wir wollten sie mit Lebensmitteln, Kleidung oder Hygieneartikeln versorgen. Von Beginn an signalisierte sie uns, dass sie uns nicht kenne und daher nicht vertraue. Wem sind diese Zweifel abzusprechen? Sie kennt uns ja wirklich nicht. Sie kann ja nicht in unser Herz schauen. Sie berichtete von ihrer Angst, dass ihr die Geschenke gewaltsam entnommen werden würden. Lieber friert sie in ihrer stark gebrauchten Übergangsjacke, als dass sie einen neuen Wintermantel entgegen nimmt und damit das Risiko des gewaltsamen Diebstahls einginge. Zudem war sie bei der Entgegennahme von Lebensmitteln sehr vorsichtig, da diese mit Gift bestückt sein könnten. Wir sind ihr regelmäßig begegnet und sie hat viele Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Trotzdem war sie nie bereit etwas entgegen zu nehmen. Wir fragten uns stets, wie viele Begegnungen und wie viel Offenheit es noch brauchte, bis sie uns wirklich vertraue. Die Geschichte erinnert an Personen, die von Gottes Wunder hören und seine Kraft bereits erleben durften, aber nicht an ihn glauben. Gott investiert unablässig, besonders in die, die nicht an ihn glauben. Er liebt sie, bevor sie ihn lieben. Er ist geduldig und verliert nicht die Hoffnung, selbst wenn die Menschen weiterhin Misstrauen an seiner Liebe haben. Wir begegneten der Obdachlosen weiterhin regelmäßig. Auf den Wunsch, dass wir ihr etwas mitbringen möchten, antwortete sie nur mit „ich habe Alles.“ Vielleicht ist unsere Sicht auch nicht die Richtige. Vielleicht hat sie wirkliches Alles und wir haben zu viel. Zu viel von Allem. So viel, dass wir die Sättigung nicht erkennen.
„Ich habe Alles“ hat uns nicht losgelassen. Immer wieder stellten wir uns die Frage, wer falsch liegt. Ist es das fehlende Vertrauen oder wirklich eine Sättigung?
Es folgte eine Begegnung mit ihr, die anders war. Wir sahen sie an ihrem üblichen Platz. Wir hatten Essen und eine warme Winterjacke dabei. Es entstand wieder ein Gespräch, in welchem wir uns über die alltäglichen Schwierigkeiten unterhielten. Sie erblickte die Jacke und fragte, ob sie diese mal sehen dürfte. Glücklicherweise war es ihre Kleidergröße und sie gefiel ihr ausgesprochen. Jetzt stand sie vor dem innerlichen Konflikt, dass sie die Jacke gerne nehmen würde, aber Angst vor einem Überfall hatte. Das Vertrauen, dass sie durch die vielen Begegnungen uns gegenüber brachte, sorgte dafür, dass sie die Jacke letztendlich behielt. Ihr Vertrauen bestätigte sich, als sie uns fragte, ob wir auch für sie Essen dabei hätten. Wir hatten nicht mehr daran geglaubt, dass sie etwas entgegen nehmen würde. So wie Gott jeden Tag geduldig mit uns ist, so wollten wir geduldig mit der Obdachlosen sein. Es waren zwar nur eine Jacke und ein paar Lebensmittel, aber für uns war es ein eindeutiges Zeichen der Offenheit und Beziehung. Durch diese Obdachlose durften wir erleben, wie viel Geduld und Arbeit bedingungsloses Vertrauen bedarf.